Am 6. März 2025 um 21 Uhr in Riale (Val Formazza). Nach einer üppigen Auswahl an Antipasti in der warmen Walser Schtuba schweifen meine Gedanken, wie so oft nach einem Flug, in die Welt der sogenannten “Amateur-Paraphilosophie“. Verantwortlich dafür ist nicht nur die anhaltende Endorphinausschüttung vom heutigen Flug, sondern auch das grosse Glas mit Wein aus dem Piemont.
Am Vormittag desselben Tages bin ich vom Monte Bisbino bei Como mit dem Gleitschirm gestartet. Zunächst folgte ich der CTR Lugano Luftraumgrenze und danach der schweiz-italienischen Landesgrenze bis zum Ende des Formazzatals. Während des gesamten Fluges wurde ich von einem mässigen bis starken Rückenwind unterstützt, der den wunderschönen Flug und meine Glücksgefühle in diesem Moment erklärt.
In der Walser Schtuba beginnen meine Gedanken, sich selbstständig zu machen, um herauszufinden, weshalb das Fliegen im Dreieck, das Hin- und Zurückfliegen oder das One Way Fliegen für mich unterschiedliche Empfindungen hervorrufen. Sind es tatsächlich Unterschiede oder ist es lediglich der Einfluss des Rotweins? Ich habe ausreichend Zeit, um dieser mehr oder weniger wertvollen paraphilosophischen Frage während der bevorstehenden langen Heimreise von der “Sackgasse Val Formazza“ nach Altdorf nachzugehen, die bereits am nächsten Morgen um 3:45 Uhr beginnen sollte.
Diese Einleitung dient als Hintergrund dafür, wie an diesem 6. März meine aktuelle Leidenschaft für eine bestimmte Unterart des Gleitschirmfliegens – dem One Way Fliegen – geboren wurde. Zusammengefasst sind vier Zutaten verantwortlich für das folgende “Plädoyer“: 1. der erwähnte Flug vom 6. März, 2. viel Zeit, 3. eine Prise Vertrauen in die Welt und 4. die Nebbiolo-Weintraube.
Ein Plädoyer auf den One Way Flug
Reiseabenteuer
Die Landung nach einem FAI-Dreiecksflug würde ich als das Ziel einer sehr anspruchsvollen sportlichen Leistung beschreiben. Obwohl ich es selber noch nicht sehr oft erlebt habe. Im Gegensatz dazu fühlte sich die Landung nach dem One Way Flug ins Formazzatal wie die Ankunft nach einer Reise an einem neuen Ort an, umgeben von unbekannten Menschen, einer Fremdsprache, unterschiedlichen Landschaften und spannenden kulinarischen Besonderheiten. Es ist ein Gefühl, das sich grundlegend von dem unterscheidet, wenn man am Vormittag noch am Startplatz stand.
Flugtaktik
Offensichtlich ermöglicht der One Way Flug, die gesamte Strecke mit Wind im Rücken zu fliegen. Ein grenzwertig starker Wind kann sogar von Vorteil sein, besonders wenn das Ziel weit entfernt ist. Allerdings kann man dadurch auch von klassischen Gleitschirm-Routen abweichen und muss sich neuen taktischen Herausforderungen stellen, wie unbekannten Lufträumen oder Streckenabschnitten über unlandbarem Gebiet.
Freiheitsgefühl und neue Reize durch Unbekanntes
Während der eingesperrte Andencondor der Falconeria Locarno allenfalls für Applaus ein gleichschenkliges Dreieck fliegen würde, zieht es den freien Zugvogel instinktiv direkt von Norden nach Süden oder umgekehrt. Ich bin überzeugt, dass das Planen, Fliegen und Vergleichen von FAI-Dreiecken einen bedeutenden Entwicklungsschub für Piloten darstellt – ähnlich wie das Wettkampf-Fliegen. Die Auseinandersetzung mit unplanbaren Situationen kann dafür bei One Way Flügen hervorragend trainiert werden. Diese unvorhersehbaren Situationen können sowohl positive als auch negative Reaktionen hervorrufen, doch der Lerneffekt ist oft gross und fördert die Resilienz gegenüber Stress.
Das Freiheitsgefühl, das mit dem One Way Flug einhergeht, ist unvergleichlich. Einfach mal schauen, wo einem der Wind hin bläst.
Kreatives Potenzial und weniger überfüllte Startplätze
Für Pilot/innen, die mehr ihren Entdeckergeist statt des sportlichen Ehrgeizes stillen möchten, bietet das One Way Fliegen eine hervorragende Möglichkeit. Die klassischen XC-Strecken in den Alpen wurden schon tausende Male geflogen und treiben damit andere Piloten zu Höchstleistungen in Fluggeschwindigkeit und -effizienz an. Das Lernen von anderen Piloten ist dabei enorm wertvoll. Informationsquellen wie Burnairmap dokumentieren alle klassischen XC-Routen bis ins kleinste Detail – von Abflughöhen, GPS-Streckenpunkte, Schlüsselstellen über Thermikhotspots, Lee-Gebieten bis hin zu Parkplatzinformationen. Diese Infos schaffen einen bequemen und fairen Rahmen für einen sportlichen XC-Wettkampf. Wer jedoch neue Situationen und Routen entdecken und das Bauchgefühl stärken möchte, findet im One Way Flug eine reizvolle Möglichkeit für ein spontanes Mikroabenteuer und unendlich viel neue kreative Routen. Wie wärs z.B. mit einem 250km Flug vom kleinen Matterhorn bis Bormio als Beispiel für ein ambitioniertes Ziel? Ausserdem kann man damit die teilweise überfüllten XC-Startplätze wie Mornera, Fanas, Riederalp, Weissenstein und Niesen umgehen.
Nachteile
Trotz der genannten Vorteile gibt es auch Nachteile. Üblicherweise entstehen lange An- oder Heimwege, und man verzichtet auf XContest-Punkte. Vielleicht muss man nach dem Flug spontan fremde Personen ansprechen oder an einem unbekannten Ort eine Unterkunft suchen, weil man nicht mehr am selben Tag nach Hause kommt. Allenfalls macht auch die Anschaffung eines Satellitentelefons und eines leichten Schlafsacks Sinn.
Mein Fazit
Der Flugsport ist nicht nur ideal für Ingenieure, sondern auch für Tagträumer, die gern mal mit ihren Gedanken in der Luft unterwegs sind und sich vom Wind verblasen lassen. Ob entspannter Flug mit Freunden, intensives Training, Acro, Wettkampf, FAI-Dreieck, flaches Dreieck, One Way, XC oder Hike & Fly: Gleitschirmfliegen bietet für jeden etwas. Entscheidend ist, herauszufinden, was an einem bestimmten Tag am meisten Freude bereitet oder die passende Herausforderung bietet – und im Idealfall kann man dieses gemeinsame Erlebnis mit Gleichgesinnten vom PDC teilen.
Cristóbal Quebrantahuesos
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